Unsere Teammitglieder Daria Wenger und Andy Limacher waren im Auftrag der Stadtentwicklung Zürich mit einer zehnköpfigen Delegation in Berlin unterwegs. Sie haben Kieze besucht, in denen das Konzept der barcelonischen Superblocks umgesetzt wird und reisen mit der Erkenntnis nach Hause, dass auch kleine Schritte zum grossen Ziel beitragen.

Veränderung als Überlebensmassnahme
Ein Artikel über Berlin bedarf einer Einleitung auf entsprechender Flughöhe. Darum beginnen wir diesen Blogbeitrag mit nichts Geringerem als der Feststellung, dass die Welt den Menschen beeinflusst, und die Menschen im Gegenzug die Welt beeinflussen.
Das ist nichts Neues. Ursprünglich haben die Menschen Veränderungen primär herbeigeführt, um zu überleben. Durch die globalen Herausforderungen unserer Zeit rückt das Überleben nun wieder in den Fokus. Um zu überleben, muss der Mensch seine Umgebung erneut verändern – und zwar drastisch. Das betrifft nicht ausschliesslich Städte, aber es betrifft sie in besonderem Masse.

Stadtgebiete im Fokus
Dass Städte sich verändern, ist ebenfalls nichts Neues. Die Einsicht, dass sie sich zwingend verändern müssen, um (über)lebenswert zu bleiben, hingegen schon, und sie hat sich erst in Fachkreisen so richtig durchgesetzt. Für wichtige Herausforderungen wie Emissionen, Hitze, Wassermangel und Versorgung gibt es mittlerweile Konzepte. Schlüsselbegriffe sind Verkehrslenkung, Entsiegelung, Schwammstadt, Essbare Stadt oder Superblocks. Weitere Schlüsselbegriffe sind Freiraumpolitik, Grünraumpolitik und Biodiversität.

Stadt der Veränderung
Dass Berlin eine Stadt ist, die sich schnell verändert, ist hinlänglich bekannt. Die Umstände sind allerdings bemerkenswert: Nach dem zweiten Weltkrieg waren neben der Infrastruktur auch über die Hälfte aller Wohnungen auf dem Stadtgebiet zerstört, was eine rege Bautätigkeit nach sich zog, die immer auch eine Demonstration dem politischen Gegenüber war, obwohl schlussendlich kaum jemand, und schon gar nicht die Bevölkerung, die Stadt als Ganzes sehen konnte und somit tatsächlich einen Vergleich der zwei Systeme hatte. Doch das ist ein anderes Thema. Fakt ist: Berlin existiert mittlerweile wieder länger ohne Trennung als mit Trennung, und nach der Hemmung folgte die Enthemmung.

Auf dem Weg zu einer gerechteren Stadt
Gegen diese Enthemmung wird nicht nur in Berlin gekämpft. Nach Jahrzehnten der Privatisierung wird lautstark die Frage gestellt, wem die Stadt eigentlich gehört, und je nach Rhetorik wird sie zuweilen auch zurückgefordert, obwohl sie nie ganz aus den Händen gegeben wurde. Die Städte sollen und wollen demokratischer, sozialer und gerechter werden. Aber wie?
Eine mögliche Antwort ist: indem der öffentliche Raum neu verteilt wird. Und dazu gehören nicht nur öffentliche Stadtparks oder Stadtplätze, die bereits im Rampenlicht stehen, sondern auch die öffentlichen Strassenräume, die letztlich alles miteinander verbinden, obwohl sie noch mehrheitlich als trennendes Element in Erscheinung treten. Ein Konzept, das sich dieser Idee in Berlin annimmt, ist das Konzept der Kiezblocks.

Vom Mobilitäts- zum Begegnungsraum
Oder Superblocks, wie sie in Barcelona, am Ort ihrer Erfindung, heissen. Superblocks entlasten die Quartierstrassen vom motorisierten Durchgangsverkehr und schaffen mehr Platz für die Quartierbevölkerung. Hauptverkehrsachsen werden dabei nicht angerührt, und innerhalb der Blocks ist die Zufahrt von Anwohnenden, Beschäftigten, Lieferverkehr, Notfalldiensten und Entsorgung weiterhin gewährleistet. Aber eben nicht die Durchfahrt.
In Berlin gibt es bereits mehrere Kiezblocks, zahlreiche sind bewilligt oder bereits in Umsetzung. Im Zentrum des Berliner Vorgehens stehen zunächst immer Verkehrsmassnahmen. Alles Weitere folgt schrittweise: Von provisorischen Pflanztrögen bis zur permanenten Entsiegelung ist mittel- bis langfristig alles denkbar. Das schafft Bilder, die für die Millionenstadt ungewohnt sind, wie der Besuch der Zürcher Delegation im Kreuzberger Graefekiez zeigt: Hier gibt es ein Gras-Sofa in einer Magerwiese. Früher waren an dieser Stelle Parkplätze, wie Google Street View offenbart.

Vom Mobilitäts- zum Begegnungsraum: Die Transformation der Graefestrasse im Graefekiez.
Bild links: Google Street View. Foto rechts: Andy Limacher.

Politik der kleinen Schritte
Dabei handelt es sich um ein besonders bildhaftes Beispiel, das sich nicht als generelle Referenz heranziehen lässt. Denn nicht überall sind derart (buchstäblich) tiefe Eingriffe möglich. Dazu stehen mancherorts nicht nur räumliche und finanzielle Realitäten, sondern liegen auch Wasser-, Strom- und Gasleitungen im Weg.
Wie die Berliner Beispiele zeigen, muss es aber nicht immer gleich eine Entsiegelung sein: Auf 30 Kilometern Velofahrt durfte die Zürcher Delegation (buchstäblich) erfahren, dass man auch mit wenigen Mitteln viel erreichen kann. Die Einführung von Einbahnstrassen, Fahrradstrassen oder Diagonalsperren mittels Signalisation, Schwellen oder den allgegenwärtigen rot-weiss-gestreiften Pollern schafft zum Projektauftakt jeweils Tatsachen, auf die sukzessive aufgebaut werden kann. Oder wie es einer der Gastgeber ausgedrückt hat: «Manchmal hilft nur Physik».

Es braucht nicht immer gleich eine Entsiegelung: Links die Bergmannstrasse im Bergmann-Kiez, rechts die Kreuzung Bellermannstrasse und Heidebrinkerstrasse im Bellermann-Kiez. Fotos: Andy Limacher.

Mit Partizipation zu Transformation
Es ist also nichts Neues, dass sich Städte verändern, und auch nicht, dass sie sich durch die globalen Herausforderungen unserer Zeit noch drastischer verändern müssen. Die Feststellung, dass es immer auch Widerstand gegen Veränderung gibt, ist ebenfalls so alt wie die Menschheit.

Die Stadtzürcher Delegation hat sich deshalb bei ihrem Besuch in Berlin neben den oben aufgeführten räumlich-gestalterischen Betrachtungen vor allem auch der prozessualen Fragestellung gewidmet, wie potenziellem Widerstand mit transparenter Kommunikation und ernsthafter Partizipation begegnet werden kann. In Berlin werden die Kiezblocks vornehmlich dort realisiert, wo ein Einwohnerantrag mit 1’000 Unterschriften eingereicht wird. Nach dem politischen Entscheid folgen Mitwirkungs-veranstaltungen, Online-Sprechstunden, Kiezblock-Agent*innen oder Fotosafaris – die Umsetzung der Kommunikation und Partizipation ist von Kiez zu Kiez in Methodik und Intensität unterschiedlich ausgestaltet.

Quartierblöcke für Zürich
In Zürich, wo die Superblocks oder Kiezblocks in Zukunft Quartierblöcke heissen werden, müssen zwar keine Unterschriften gesammelt werden, aber ein nachweisliches Interesse aus dem Quartier muss vorhanden sein. So hat die Stadt im ersten Halbjahr 2024 mit der methodischen Unterstützung von ProjektForum Echoräume mit Quartierorganisationen und weiteren Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft durchgeführt, um die ersten Pilotgebiete zu eruieren. Das sind nun Aussersihl und Unterstrass, wo die Bewohner*innen und das Gewerbe bei der Konzeptentwicklung für das konkrete Gebiet eng einbezogen werden. Ab November 2024 finden dazu öffentliche Mitwirkungsveranstaltungen statt, die ProjektForum moderieren wird. Ab Sommer 2025 folgen dann die Gebiete Riesbach und Seebach.

Veränderung geht nur gemeinsam
Wie die Berliner Beispiele zeigen, sind viele Menschen bereit, die Veränderungen mitzutragen – Bewohner*innen ebenso wie das Gewerbe. Und das nicht nur, weil sie die Notwendigkeit einer (über)lebenswerten Stadt anerkennen, sondern immer auch, weil sie persönlich davon profitieren: Die Bewohner*innen von mehr Frei- und Gestaltungsraum und je nach Umsetzung auch von mehr Grünraum, darüber hinaus von weniger Lärm und gegebenenfalls von weniger Hitze. Sind die Quartierblöcke entsprechend gestaltet, kann auch für die Gewerbetreibenden Mehrwert entstehen: Durch angemessene Standflächen und Lieferzonen oder mehr Laufkundschaft.

Was die Berliner Beispiele aber auch zeigen ist, dass alle Betroffenen frühzeitig einbezogen werden müssen: Gerade das Gewerbe trägt viel zum Leben in einem Quartier bei und darf nicht einfach links liegen gelassen werden. Und systematisch erhobene wissenschaftliche Erkenntnisse, wie sich Quartierblöcke tatsächlich auf verschiedene Branchen auswirken, fehlen bisher.

Unser Fazit: Die Neuverteilung des öffentlichen Raums kann gelingen. Der Erfolg hängt dabei von vielen Faktoren ab: Von finanziellen und personellen Ressourcen, von der Initiative und dem Engagement der Bevölkerung, vom Willen der Politik und vom langen Atem der Verwaltung. Das Gelingen hängt vom Zusammenspiel Aller ab. Und von einer Vorgehensweise, die Fehler zulässt und nicht nach Uniformität und Perfektionismus strebt. Es braucht eine Vorgehensweise kleiner Schritte, die zusammengenommen zum grossen Ziel führen.