Und plötzlich war es da wieder, dieses Gefühl, bei null anzufangen. Unser Mitarbeiter Andy Limacher berichtet entlang eines aktuellen Arbeitsbeispiels über Chancen, Herausforderungen und Überraschungen in der methodischen Konzeption und Umsetzung eines Mitwirkungsprozesses in einer unsicheren, aber lehrreichen Zeit.

Erstens: der Claim.

Als ich 2012 meine Tätigkeit als Projektleiter bei ProjektForum aufnahm, trug die Agentur noch den Dreiklang «Kommunikation, Events, Kampagnen» als Claim. Nach meinem Wechsel in die Geschäftsleitung 2015 änderten wir den Claim auf «Kommunikation für gesellschaftspolitische Themen». Kommunikation und Events sind nach wie vor wichtige Tätigkeiten und werden es vermutlich auch bleiben, zumindest als Bestandteil in der Begleitung von partizipativen Prozessen – eine Dienstleistung, die unseren Alltag immer stärker durchdringt.

Vielleicht ändern wir den Claim im laufenden Soziokratie-Prozess ja demnächst auf «Partizipation und Kommunikation»? Oder gleich auf «Agentur für Partizipation»? Denn möglicherweise muss die Kommunikation nicht unbedingt explizit erwähnt bleiben, da wir diese – gemäss fachkundig-philosophischer Diskussion während Zugfahrten zu und von unseren Kund*innen – als integralen Bestandteil der Partizipation oder zumindest als Vorstufe ebendieser begreifen.

Aber dieses Thema sei anderswo diskutiert und somit vertagt.

Zweitens: zurück zum Start.

Meine erste Teilnahme an der Jugendsession 1996 im Alter von 17 Jahren legte den Grundstein für all meine späteren Tätigkeiten. Das meiste, was ich in den vergangenen 25 Jahren umsetzten durfte, hatte in irgendeiner Form mit Partizipation, Veranstaltungen und Moderationen zu tun. Und obwohl jeder Prozess nach wie vor etwas Besonderes ist und die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt bekommt, kann ich mittlerweile einige Register ziehen und fange nicht jedes Mal ganz von vorne an, wenn es zu neuen Projekten kommt. So gab es in den letzten Jahren zwar immer wieder spannende methodische Herausforderungen, aber nur wenige Überraschungen.

Und dann kam die Pandemie.

Und plötzlich war es da wieder, dieses Gefühl, bei null anzufangen. Das war irritierend, aber auch aufregend. Es war irgendwie so, als wäre ich wieder 17 Jahre alt: Es gab Bedarf und Bedürfnis, Neues auszuprobieren und zu lernen. Also gingen wir mit Freude zurück zum Start. Über einige gelernte Lektionen haben wir in diesem Blog schon berichtet. Dieser Beitrag handelt von einem Projekt, das mir ganz besonders geblieben ist.

Drittens: die methodische Knacknuss.

Beim Format «Zukunfts-Kafi» handelt es sich um einen rund einjährigen partizipativen Prozess auf Ebene der Gemeinde. Menschen aller Generationen nehmen daran teil, benennen ihnen wichtige Themen und entwickeln Projektideen. Am Zukunfts-Kafi entsteht ein Stimmungsbild zum Zusammenleben in der Gemeinde, erarbeitet von der Bevölkerung, von Vereinen, Organisationen sowie der Politik und Verwaltung. Diese Projektideen werden anschliessend bis zur Umsetzungsreife konkretisiert und schliesslich in die Umsetzung begleitet.

Das Modell der Zukunfts-Kafis wurde ursprünglich vom Verein Ostsinn und der Generationenakademie des Migros-Kulturprozents entwickelt und ab 2014 in fünf Ostschweizer Gemeinden erfolgreich durchgeführt. Von 2018 bis 2020 wurde im Rahmen eines Pilotprojekts in den zwei Aargauer Gemeinden Muri und Zofingen ebenfalls ein Zukunfts-Kafi durchgeführt, wobei ProjektForum dabei den Prozess im Auftrag der Trägerschaft adaptierte und die beiden Gemeinden begleitete.

Am 14. April 2020 – also mitten im Lockdown – erreichte uns die Anfrage der Gemeinde Ehrendingen für die Durchführung eines Zukunfts-Kafis. Das zeugt von grossem Mut seitens der Gemeinde und freute uns, flösste aber auch gehörigen Respekt ein: Lässt sich ein Format, das so stark von direkten Begegnungen und dem Dialog zwischen den Generationen lebt, überhaupt virtuell durchführen?

Viertens: das Spiel mit den Herausforderungen.

Die Antwort ist selbstverständlich: Ja. Aber das ist im Rückblick immer leicht gesagt. Getan war es dann doch nicht ganz so leicht. Während eines Jahres planten wir flexibel und versuchten, mit einer rollenden Planung auf alle Eventualitäten gefasst zu sein und führten letztlich fast alle Elemente des partizipativen Prozesses im virtuellen Raum durch.

Organisiert wird das Zukunfts-Kafi jeweils von einer lokalen Spurgruppe, die sich im Hinblick auf die Hauptveranstaltung zwei Mal trifft und in der alle Generationen vertreten sind. Diese zwei Sitzungen in Ehrendingen virtuell durchzuführen war methodisch noch relativ einfach machbar, auch wenn wir die sonst üblichen informellen Gespräche schmerzlich vermissten. Denn genau diese machen Chancen und Gefahren eines Prozesses direkter und verlässlicher sicht- und  spürbar als die geplanten formellen Gefässe.

Herausfordernder war die Adaption des Zukunfts-Kafis selbst, eine erprobtes und klar orchestriertes halbtätiges Mitwirkungsformat. Herausfordernd auf vor allem zwei Ebenen, über die im Folgenden berichtet sei.

Fünftens: die methodischen Herausforderungen.

Im klassischen Setting findet das Zukunfts-Kafi an einem Samstagmorgen statt und dauert etwas über vier Stunden. Für eine virtuelle Durchführung erachteten wir dieses Zeitfenster als zu lange und diskutierten mit der Spurgruppe darum zwei Szenarien: Erstens die Verkürzung mittels Auslagerung eines Programmteils als Vorbereitungsaufgabe oder zweitens die Gliederung in zwei Programmteile am Freitagabend und Samstagmorgen. Die Spurgruppe entschied sich schliesslich für letzteres. Das machte einen Grundeingriff in die klassische Struktur des Formats nötig.

Die methodischen Möglichkeiten einer virtuellen Durchführung sind zudem untrennbar mit den technischen Möglichkeiten der verwendeten Tools verbunden (das verhält sich im Übrigen auch bei einer analogen Durchführung so, bei der die methodischen Möglichkeiten untrennbar mit Raum und Infrastruktur verbunden sind).

Sechstens: die technischen Herausforderungen.

Im virtuellen Raum ist die Umsetzung gewisser Arbeitsschritte eines Grossgruppenprozesses nach wie vor schwierig. Die Diskussion funktioniert zwar im virtuellen Raum mit etwas Übung tatsächlich ohne weiteres, die Dokumentation hingegen stellt je nach Erfahrung und Wissen der Teilnehmenden immer noch eine grosse Herausforderung dar. Da ist ein Papier auf einem Flipchart schlussendlich eben doch ein sehr viel einfacheres Mittel, da es für selbstorganisiertes Arbeiten (abgesehen von der Leserlichkeit der Ergebnisse) kaum Hürden bietet und man für den meist daran gekoppelten Schritt der Priorisierung schlicht und einfach mit Klebepunkten arbeiten kann.

Eine weitere Herausforderung: In einem Saal können Tischinseln mit Kleingruppen durch die Moderation laufend koordiniert und angeleitet werden, wenn die Methodik dies erfordert. Das von uns für das Zukunfts-Kafi in Ehrendingen aufgrund der breiten Bekanntheit und Zugänglichkeit gewählte Videokonferenztool ermöglichte diesen direkten Sprachkanal in die virtuellen Kleingruppenräume nicht und machte somit Gruppenleitende für die Moderation und Dokumentation nötig. Das wiederum erforderte einen personellen Mehraufwand und zusätzliche zeitliche Ressourcen für die Schulung der Gruppenleitenden.

Ein vergleichbares Videokonferenztool, das wir für eine andere Veranstaltung eingesetzt haben, hätte diesen direkten Sprachkanal in die Kleingruppen ermöglicht. Das Tool ist allerdings noch viel weniger verbreitet, was im Ernstfall dazu geführt hat, dass einzelne Gäste aufgrund der digitalen Sicherheitsmassnahmen am Arbeitsplatz gar nicht erst teilnehmen konnten.

Selbstverständlich darf jetzt argumentiert werden, dass es mittlerweile ein Tool für jede der oben genannten Aufgaben gibt. Das ist wahr, aber ich wage einfach mal zu behaupten, dass bisher kein Tool die von mir gewünschten Funktionen tatsächlich vereint. Das wird mit einiger Sicherheit auch nie der Fall sein und auch weiterhin die Kombination mehrerer Tools nötig machen, aber die Erfahrung der letzten knapp 20 Monate hat uns dazu bewegt, die Anzahl eingesetzter Tools pro Veranstaltung wieder drastisch auf ein Minimum zu reduzieren. Dies, um Fehleranfälligkeit und Überforderungen vorzubeugen und somit auch den Zugang von allen Betroffenen, die sich zu Beteiligten machen möchten, nicht unnötig zu erschweren.

Der höhere Personalaufwand für die virtuelle Durchführung des Zukunfts-Kafis im Vergleich zum klassischen Format mag auf den ersten Blick zwar erstaunen, ist aber direkt an die oben erwähnten methodischen und technischen Faktoren geknüpft.

Siebtens: die Frage nach der Sinnhaftigkeit.

Die Pandemie hat im Zusammenhang mit dem Zukunfts-Kafi in Ehrendingen nicht nur zu neuen Erkenntnissen, sondern auch zu spannenden und teilweise absurd anmutenden Erfahrungen geführt. So ist unser Team für die virtuelle Durchführung der zweitägigen Veranstaltung aus Bern und St. Gallen quer durch den analogen Raum nach Ehrendingen gereist. Dort haben wir das Studio eingerichtet und uns über die Bildschirme im Gemeindehaus mit den Bildschirmen in den Wohnungen der Mitwirkenden verbunden. Nach dem ersten Programmteil am Freitagabend haben sich dann einige Teilnehmende spontan, selbstorganisiert und pandemiekonform nicht-virtuell in der Dorfbeiz für die Weiterführung der Gespräche getroffen.

Das ist tatsächlich ein bisschen absurd, aber über Sinn und Unsinn einzelner Pandemiemassnahmen sei an dieser Stelle nicht gestritten. Eine Pandemie ist eine Ausnahmesituation, da kann nicht alles logisch und ordentlich sein. Wir hinterfragen zwar Vieles, aber setzen unsere Energie lieber für Lösungen ein.

Achtens: die Veränderung als einzige Konstante.

Ein bisschen zu unserem eigenen Erstaunen hat schlussendlich alles so funktioniert, wie wir uns das gewünscht haben. Und die Ergebnisse des ersten virtuellen Zukunfts-Kafis stehen den Ergebnissen der sieben analogen Vorgänger in nichts nach. Auch der Übergang von einem davor komplett virtuellen Prozess zurück in die analoge Welt ist mit der Auswertungssitzung im August 2021 geglückt – die fünf Projektgruppen «Kommunikation verbessern», «Jugendorte schaffen», «Zeit teilen, Zeit schenken», «Begegnungsorte fördern» sowie «Anlässe, jetzt und bald» sind nach dem ersten nicht-virtuellen Treffen im Gemeindehaus von Ehrendingen gut gestartet.

Die Herausforderungen sind gemeistert, Überraschungen werden aber bestimmt noch einige folgen – wir freuen uns und bleiben gespannt.